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OAB/Muskarinrezeptoren
„Antennen“ für Acetylcholin im gesamten Organismus auf Empfang


Acetylcholin fungiert im Zentralnervensystem (ZNS) und im vegetativen peripheren Nervensystem als synaptischer Überträgerstoff. Seine Wirkungen kommen entweder über nikotinerge oder muskarinerge Acetylcholinrezeptoren zustande. Letztere gewinnen als Zielmoleküle für medikamentöse Therapien zunehmend an Bedeutung. Muskarinrezeptor-Antagonisten (sogenannte Antimuskarinika) haben sich als einzige effektive medikamentöse Behandlungsoption bei überaktiver Blase (OAB) und Dranginkontinenz durchgesetzt. Ihre Anwendung wird allerdings häufig durch Nebenwirkungen begrenzt. Diesbezüglich ist die Verbreitung von Muskarinrezeptor-Subtypen und die Rezeptorkinetik verschiedener Antimuskarinika von Interesse.



Muskarinrezeptoren sind Acetylcholinrezeptoren, die sich durch das Pilzgift Muskarin aktivieren lassen

    Die Familie der muskarinergen Acetylcholinrezeptoren umfaßt fünf Subtypen, M1– M5, die alle von einem separaten Gen kodiert werden. Das Rezeptorprotein durchspannt die Zellmembran von Nervenzellen jeweils siebenfach (Abb. 1). Es handelt sich um ein G-Protein-bindendes Molekül, bei dessen Aktivierung eine intrazelluläre Signalkaskade in Gang gesetzt wird. Je nachdem, mit welchem G-Protein ein Muskarinrezeptor interagiert, werden verschiedene Reaktionswege über unterschiedliche sekundäre Botenstoffe beschritten.



    Namengebend für die Muskarinrezeptoren ist Muskarin, ein Pilzgift, das insbesondere im Fliegenpilz, Amanita muscaria, vorkommt. Es handelt sich um ein quartäres Ammoniumsalz, das als Parasympathikomimetikum am Herzen negativ chrono- und inotrop wirkt, den Tonus und die Peristaltik im Magen-Darm-Trakt steigert, sowie Vasodilatation, Bronchokonstriktion und Miosis bewirkt. Ins ZNS gelangt Muskarin als salzartige Verbindung nicht.

Im Gehirn beeinflußt Acetylcholin über den M1-Rezeptor das kognitive Leistungsvermögen
    Wichtigster Muskarinrezeptor-Subtyp im Gehirn ist M1. Er dominiert anteilsmäßig mit ca. 36% gegenüber 21% M2- und 25% M3-Rezeptoren. Durch Aktivierung oder Deaktivierung des M1-Rezeptors im frontalen Kortex und im Hippokampus werden kognitive Funktionen wie Orientierungs-, Konzentrations- und Merkfähigkeit beeinflußt. Deshalb kann eine Schwächung der Acetylcholin-Stimuli insbesondere bei älteren Menschen – sei es durch den Verlust an M1-Rezeptoren im Alter, oder durch eine Behandlung mit Antimuskarinika, die über die Blut-Hirn-Schranke gelangen – unter Umständen zu gefährlichen kognitiven Leistungseinbußen kommen. In der Behandlung der überaktiven Blase bietet Trospiumchlorid (z. B. Spasmex®) diesbezüglich den Vorteil, daß es als quartäres Ammoniumsalz nicht ins Gehirn gelangt.

    Über cholinerge und anticholinerge Substanzen in Verbindung mit M1-Rezeptoren wirken auch halluzinogene Drogen wie Arecolin (Betel-Nuß) bzw. Atropin (Stechapfel, Tollkirsche).

Für die direkte Detrusorkontraktion sind in der gesunden Harnblase die M3-Rezeptoren verantwortlich
    Die Kontraktion des Detrusors wird durch Aktivierung des vesikulären M3-Rezeptors ausgelöst [1]. Hierbei kommt es offenbar nicht zu der bislang vielfach angenommenen Kontraktionsauslösung durch vermehrte Freisetzung des sekundären Botenstoffs Inositoltriphosphat (IP3) und die von ihm induzierte Erhöhung der intrazellulären Ca2+-Konzentration. Vielmehr spielen die Inhibition von Kaliumkanälen und die rho-Kinase eine Rolle. Letztere bewirkt unter anderem eine vermehrte Phosphorylierung des Myosinmoleküls und induziert hierdurch die Muskelkontraktion [2].

    In der Harnblase übertrifft der M2- den M3-Rezeptor zahlenmäßig um ein Mehrfaches. Das spricht für eine wichtige Rolle im Rahmen der Kontrolle von Harnspeicherung und Harnentleerung. Nach gängiger Auffassung wird die über 3-Rezeptoren sympathisch gesteuerte Detrusorrelaxation während der Speicherphase durch die Aktivität von M2-Rezeptoren während der Entleerungsphase außer Kraft gesetzt. Aufgrund der Bedeutung der M2-Rezeptoren für die Harnblasenfunktion ist eine selektive M3-Blockade bei OAB wahrscheinlich nicht zielführend.

    Bei In-vitro-Experimenten mit Harnblasengewebe von Knock-out-Mäusen, denen entweder das Gen für den M2- oder den M3-Rezeptor stummgeschaltet worden war, erwies sich die kontraktionsvermittelnde Rolle der M2-Rezeptoren als weniger ausgeprägt als die der M3-Rezeptoren. Sind beide Rezeptoren zugleich ausgeschaltet, werden acetylcholinerge Signale nicht mehr verarbeitet. Andererseits war die Blasenfunktion bei diesen Doppelt-Knock-out-Mäusen im lebenden Tier nicht gestört. Bei Ausschaltung der muskarinergen Rezeptoren werden offenbar nichtcholinerge Mechanismen hochreguliert [3].

    Zur parasympathisch gesteuerten Blasenentleerung trägt nicht nur die efferente Innervation der glatten Detrusormuskulatur, sondern auch die afferente sensorische Innervation in der vesikalen Schleimhaut bei. Letztere hat nach neueren Erkenntnissen eine muskarinerge Komponente. Denn bei Instillation von Antimuskarinika in die Harnblase von Ratten, läßt sich eine Carbachol-induzierte Kontraktion des Detrusors unterdrücken [4]. Dieser topische Effekt ist möglicherweise von pharmakologischem Nutzen: Die Carbachol-induzierte Kontraktion des Detrusors bei Ratten läßt sich auch unterdrücken, wenn ihnen der Urin von Menschen in die Blase instilliert wurde, die Trospiumchlorid eingenommen hatten. Wurden hingegen von den Urinspendern Tolterodin oder Oxybutynin ebenfalls in vorgeschriebener Dosierung eingenommen, wurde bei den damit behandelten Ratten durch Carbachol eine Detrusorkontraktion ausgelöst [5].

Am Herzmuskel vermitteln M2-Rezeptoren die dämpfende Modulation des Nervus vagus
    Sämtliche Regionen des menschlichen Herzens werden über den Plexus cardiacus vom Nervus vagus innerviert.


    Hierdurch wird der Sinusrhythmus im Zusammenspiel mit den Nervi cardiaci des Sympathikus den Erfordernissen des Organismus angepaßt.

    Die Muskarinrezeptoren des Herzens sind zu ca. 90% vom Typ M2. Ihre parasympathische Wirkung in den Vorhöfen (Bradykardie) kommt über inhibitorische G-Proteine zustande. In den Kammern vermitteln die M2-Rezeptoren negativ inotrope Effekte.

    In den Koronargefäßen wurden M3-Rezeptoren nachgewiesen. Diese sollen nach Ergebnissen aus Tierversuchen in erster Linie eine Relaxation der Koronargefäße bewirken [6]. Jüngsten Erkenntnissen zufolge werden den M3-Rezeptoren am Herzen zytoprotektive Wirkungen beigemessen. Acetylcholin-Einflüsse sollen vor ischämischen myokardialen Schäden schützen [7].

Via M3-Rezeptoren werden zahlreiche weitere Körperfunktionen in einer Reihe von Organen parasympathisch reguliert
    Parasympathische hemmende oder aktivierende Einflüsse werden in zahlreichen Organen überwiegend durch den M3-Rezeptor vermittelt (Abb. 2). Diese Rezeptoren sind in erster Linie auf glatten Muskelzellen und in Drüsen lokalisiert. Sie induzieren Muskelkontraktionen und eine erhöhte Sekretion.
    Speicheldrüsen: In der rein serösen Ohrspeicheldrüse (Parotis) kommen ausschließlich M3-Rezeptoren vor. Hingegen erfolgt die Steuerung des Speichelflusses in der Glandula sublingualis und der Gl. submandibularis auch über M2-Rezeptoren [8].
    Schweißdrüsen: Außer M1-Rezeptoren sind in den Schweißdrüsen alle anderen Subtypen nachgewiesen worden. Die Regulierung Schweißproduktion ist aber eindeutig von M3-Rezeptoren abhängig.
    Pankreas: Parasympathische Effekte am exokrinen Pankreas werden über M1- und M3-Rezeptoren vermittelt [9]. Letztere steuern zusammen mit M1-Rezeptoren auch die endokrine Funktion der -Zellen in den Langerhansschen Inseln [10].


    Magen-Darm-Trakt: Die Motilität des Kolons, des Ileums und des Magens wird über M3-Rezeptoren angeregt. Insbesondere bei den neueren Antimuskarinika zur Behandlung der überaktiven Blase scheint Obstipation eine der auffälligsten Nebenwirkungen zu sein.
    Auge: Der für die ophtalmologischen Nebenwirkungen verantwortliche Rezeptortyp ist der M3-Rezeptor. Er löst neben dem Kammerwasserflow die Akkomodation und Miosis des Ziliar-muskels bzw. der Linse aus.

Affinität bezeichnet die Neigung, an einen Rezeptor zu binden und Selektivität die vorzugsweise Affinität zu einem speziellen Rezeptor
    Als Maß für die Rezeptoraffinität dient der pKi-Wert. Dieser ist wie der pH-Wert ein negativer dekadischer Logarithmus, so daß ein um eins höherer Wert eine 10fach niedere Konzentration ausdrückt. Mit einem pKi von 9,3 besitzt Trospiumchlorid gegenüber dem M3-Rezeptor die größte Affinität aller für die Indikation überaktive Blase zugelassenen Antimuskarinika (Abb. 3). Demzufolge wird mit dieser Substanz bei der vergleichsweise niedrigsten Konzentration die halbmaximale Wirkung erzielt.

    Mit einer hohen Rezeptorselektivität pharmakologischer Substanzen lassen sich vielfach Nebenwirkungen reduzieren. Dies ist durch eine M3-Selektivität der Antimuskarinika zur Behandlung der überaktiven Blase nur bedingt möglich. Bei einem Unterschied der pKi-Werte von M3 zu M1 von 1,7 im Fall von Darifenacin ist unter Umständen davon auszugehen, daß sich zentralnervöse Wirkungen reduzieren. In der Mehrheit der Organe sind aber M3-Rezeptoren – wie in der Harnblase – an der Regulierung der Funktion maßgeblich beteiligt.

    In Anlehnung an den Vortrag „Medikamentöse Therapie der OAB: »Good News oder Never Ending Story?« von Dr. med. Andreas Wiedemann (Gelsen kirchen) anläßlich der 9. Bamberger Gespräche „Der ältere Patient mit Blasen funktionsstörungen – Sinnvolle Diagnostik und Therapie in der Praxis“ am 10. September 2005 in Bamberg.

Literatur:
[1]Fetscher C, Fleichman M, Schmidt M, et al. 2002. M3 muscarinic receptors mediate contraction of human urinary bladder. Br J Pharmacol 136:641-643.
[2]Schneider T, Fetscher C, Krega S, Michel MC. 2004. Signal transduction underly­ing carbachol-induced contraction of human urinary bladder. J Pharmacol Exp Ther 309:1148-1153.
[3]Kumar V, Cross RL, Chess-Williams R, Chapple CR. 2005. Recent advances in basic science for overactive bladder. Curr Opin Urol 15:222-226.
[4]Kim Y, Yoshimura N, Masuda H, et al. 2005. Antimuscarinic agents exhibit local inhibitory effects on muscarinic receptors in bladderafferent pathways. Urology 65:238-242.
[5]Kim Y, Yoshimura N, Masuda H, et al. 2006. Intravesical instillation of human urine after oral administration of trospium, tolterodine and oxybutynin in a rat model of detrosor overactivity. BJU Int 97:400-403.
[6]Lamping KG, Wess J, Cui Y, et al. 2004. Muscarinic (M) receptors in coronary circu­la­tion: gene-targeted mice define the role of M2 and M3 receptors in response to ace­tylcholine. Arterioscler Thromb Vasc Biol 24:1253-1258.
[7]Yang B, Lin H, Xu C, et al. 2005. Choline produces cytoprotective effects agains ische­mic myocardial injuries: evidence for the role of cardiac m3 subtype muscarinic ace­tylcholine receptors. Cell Physiol Bio­chem 16:163-174.
[8]Melvin JE, Yule D, Shuttleworth T, Begenisich T. 2005. Regulation of fluid and electrolyte secretion in salivary gland acinar cells. Annu Rev Physiol 67:445-469.
[9]Niebergall-Roth E, Singer MV. 2003. Control of pancreatic exocrine secretion via muscarinic receptors: which subtype(s) are involved? A review. Pancreatology 3:284-292.
[10]Iismaa TP, Kerr EA, Wilson JR. 2000. Quantitative and functional characterization of muscarinic receptor subtypes in insulin-secreting cell lines and rat pancreatic islets. Diabetes 49:392-398.
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