Jede Menge „Schrott“ glaubte man im menschlichen Erbgut gefunden zu haben, nachdem die Sequenzierung der genomischen DNA im
Rahmen des Humangenomprojekts zur Jahrtausendwende für abgeschlossen erklärt wurde. Denn den mindestens 98 Prozent der DNA, die
sich zwischen den Protein-kodierenden Genen befindet, kam keine erkennbare Funktion zu. Das hat sich in jüngerer Zeit so
grundlegend geändert, dass der „Schrott“ im Jahr 2006 sogar mit dem Nobelpreis „vergoldet“ wurde. Die Laureaten Craig Mello
und Andrew Fire, wie auch eine Reihe weiterer beteiligter Forscher, hatten erkannt, dass eine Vielzahl kleiner RNA-Moleküle
(mikroRNA) in zahlreiche biologische Prozesse regulatorisch eingreift. Sie wechselwirken auf sequenzspezifische Weise mit
Messenger (m)RNA und regulieren die Gen-Expression post-transkriptionell. Dieser Mechanismus, der auch als RNA-Interferenz
bezeichnet wird, lässt sich experimentell heute schon dazu nutzen, Gene gezielt „stumm“ zu schalten. Die Schlüsselrolle der
mikroRNA im Rahmen tumorassoziierter zellulärer Prozesse macht sie zu viel versprechenden Kandidaten für die Entwicklung
diagnostischer und prognostischer Biomarker wie auch als Therapie-Targets
Gene, die nur als RNA ausgeprägt werden
Ist von Genen die Rede, werden damit zumeist DNA-Abschnitte gemeint, die in RNA umgeschrieben und schließlich als Proteine
ausgeprägt (exprimiert) werden. Doch beim Menschen machen die schätzungsweise etwa 30.000 derartiger Gene nur einen verschwindend
kleinen Teil der gesamten Erbsubstanz von ca. drei Milliarden Basenpaaren aus. Den überwiegenden Teil der DNA qualifizierte
man etwas voreilig als evolutionären Schrott ab und warf ihn – wie sich Molekularbiologen und Genetiker auszudrücken
pflegen – kurzerhand in den Mülleimer. Im Hinterkopf rumorte aber immer die Frage, warum diese so genannte Junk-DNA dennoch
großenteils in RNA umgeschrieben, d.h. in hohem Maße transkribiert wird.
Zahlreiche DNA-Abschnitte des Genoms werden zwar in RNA umgeschrieben, nicht aber in Peptide oder Proteine übersetzt
Erst in kürzerer Zeit wurde erkannt, dass es zahlreiche Gene gibt, die zwar in RNA umgeschrieben (transkribiert), nicht aber
in Peptide bzw. Proteine übersetzt (translatiert) werden. Fortschritte auf diesem Gebiet verzögerten sich zunächst insofern,
als man glaubte, nach eher größeren RNA-Molekülen suchen zu müssen. Erst als man sich RNA-Molekülen mit nur 22 bis 25 Nukleotiden
zuwandte, nahm die Erforschung der „Nur-RNA-Gene“ richtig Fahrt auf. Man erkannte, welche wichtige Rolle solche kleinen RNA-Moleküle
bei der Ausprägung des Phänotyps spielen. Zwischenzeitlich wurden bereits Hunderte solcher regulierenden kleinen RNA-Moleküle entdeckt,
eine Vielzahl davon auch beim Menschen.
Zwei Klassen kleiner RNA-Moleküle
Von den Sequenz-spezifischen post-transkriptionellen Regulatoren der Gen-Expression wurden zwei Klassen kleiner RNA-Moleküle
entdeckt: die small interfering RNA (siRNA) und die mikroRNA (miRNA). Die Biosynthese beider RNA-Formen, ihr Einbau in einen
RNA-Proteinkomplex, und dessen Fähigkeit die Bildung bestimmter Proteinprodukte auf mRNA-Ebene herunterzuregulieren sind in
Abbildung 1 dargestellt. Obwohl miRNA und siRNA unterschiedlichen Vorläufermolekülen entstammen, weisen sie
identische biochemische Merkmale auf.
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Abb. 1: Wege zur RNA-Interferenz:
A) siRNA-Interferenz
Lange doppelsträngige (ds)RNA wird durch einen „Würfelschneider“ (Dicer) zur Duplex siRNA gespalten und in einen RNA
inducing silencing complex (RISC) inkorporiert. Es schließt sich das Entwinden der Duplex-siRNA an. Durch den einsträngigen
Antisense-siRNA-Strang wird der RISC mit der komplementären messenger (m)RNA hybridisiert. Es resultiert die endonukleolytische
Spaltung der mRNA.
B) mikro RNA-Interferenz
Haarnadel-Vorläufermoleküle werden durch den Dicer in mikroRNA mit ca. 22 Nukleotiden gespalten. Diese werden in einen
mikroRNA-Proteinkomplex (mikroRISC) eingebaut. Dieser erkennt durch einen Sequenzabgleich die Ziel-mRNA. Die Hybridisierung
der miRNA mit komplementärer mRNA führt zu einer Unterdrückung der Translation (mod. nach Dykxhoorn DM, et al. 2003, Nature
Reviews 4:457-467.).
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Die durch miRNA und siRNA programmierten RISC steuern unterschiedliche Ziele in der Zelle an. Die aus doppelsträngiger RNA
gebildete siRNA wird bei Säugetieren einschließlich des Menschen offenbar nicht endogen gebildet. Eine ihrer grundlegenden
Funktionen betrifft die Abwehr von Viren. Denn wenn virale doppelsträngige RNA zu siRNA „zerhackt“ wird, lässt sich damit
die Expression viraler Proteine unterdrücken. Allerdings antworten Viren auch mit Gegenstrategien. Durch sog. genetisches
Engineering lässt sich doppelsträngige RNA in Zellen einschleusen und mit Hilfe der dann gebildeten siRNA die Überexpression
bestimmter Gene unterdrücken. Hierdurch eröffnen sich unter Umständen zukünftige Therapieoptionen bei verschiedenen Krebserkrankungen.
Andererseits haben etliche große Pharmafirmen nach Fehlschlägen bei siRNA-basierten Therapieansätzen diesbezügliche Projekte
zumindest auf Eis gelegt.
Forschung und Industrie konzentrieren sich heute im Wesentlichen auf die miRNA. Diese hat eine erhebliche Bedeutung bei Tumorerkrankungen.
Über miRNA wird die Gen-Expression reguliert, so dass sie bei Wachstums- und Differenzierungsprozessen eines Organismus Schlüsselfunktionen
innehat. Etwa die Hälfte der miRNA-Gene ist in tumorassoziierten Regionen des Genoms oder in „Fragile Sites“ lokalisiert. miRNA-Signaturen
von Krebsgeweben lassen sich analog zu mRNA-Signaturen mithilfe von miRNA-Mikroassays erhalten. Ihre Aussagekraft ist für verschiedene
Gewebe der von mRNA-Profilen überlegen. Als Diagnoseinstrument haben sie ihre Fähigkeit bei schlecht differenzierten Tumoren ungewisser
Herkunft unter Beweis gestellt. In einigen Fällen war es möglich, den Primärtumor anhand des miRNA-Profils zu identifizieren.
miRNA in Diagnose und Prognose bei Prostatakrebs
Das Spektrum der Behandlungsmöglichkeiten bei Prostatakrebs umfasst im Wesentlichen die engmaschige Überwachung (active surveillance)
die Strahlentherapie, die radikale Prostatektomie und die Androgendeprivationstherapie (ADT). Chemotherapien sind erst bei
kastrationsresistentem Prostatakrebs indiziert. Bei lokalisierter Krankheit in einem frühen Stadium erfolgt die radikale Prostatektomie
in kurativer Absicht. Andererseits ist Prostatakrebs oft relativ indolent, so dass die Überlegungen insbesondere bei Männern im
fortgeschrittenen Alter dahin gehen, dass eine Progression der Krankheit innerhalb der Lebenserwartung des Patienten eher
unwahrscheinlich ist. Um in solchen Fällen eine Überbehandlung zu vermeiden, bei der Nebenwirkungen die Lebensqualität in nicht
unerheblichem Maße einschränken können, lässt sich die Therapie unter Umständen unter engmaschiger Überwachung aufschieben oder
gar überflüssig machen.
Die miRNA-Profile verschiedener Gewebe sind häufig aussage-kräftiger als die entsprechenden mRNA-Signaturen
Die prinzipielle Frage ist aber nach wie vor ungeklärt: Wie ist ein früher Prostatakrebs der der Extirpation bedarf, von einem
Prostatakrebs sicher zu unterscheiden, der sich für die engmaschige Überwachung eignet? Der PSA-Spiegel und/oder der Gleason Score
sind keine zuverlässigen Indikatoren für die Aggressivität eines Tumors. Bessere Ergebnisse werden von miRNA-Signaturen erhofft.
Eine Reihe von Untersuchern hat bereits miRNA-Vergleiche in gesundem und malignem Prostatagewebe anhand von Mikroarray-Analysen
vorgenommen. Allerdings sind die Ergebnisse bislang eher ernüchternd. Verschiedene Autoren sind sich bei zahlreichen miRNA uneinig,
ob sie im Prostatakrebsgewebe herauf oder herunterreguliert sind (Übersicht in [1]). Hierfür kommen in erster Linie technische Ursachen
in Frage. Das reicht von der Selektion der Patientenpopulation mit unterschiedlichen Tumorstadien und Differenzierungsgraden wie auch
Behandlungseinflüssen über die Präparation und Behandlung des Ausgangsmaterials bis hin zur Verwendung von Gesamt-RNA oder angereicherter
kleiner RNA. Alles in allem sind es noch etliche weitere Details, die beachtet und standardisiert werden müssen, um die Vergleichbarkeit
von Mikroarray-Analysen sicherzustellen.
In einer jüngeren Analyse von Virologen an der Universität des Saarlands in Homburg/Saar wurden miRNA-Profile von Prostatakarzinomen
mittels „deep sequencing“ erhalten. Das Team identifizierte 33 miRNA, die entweder um das 1,5-fache herauf- oder herunterreguliert
waren. Die Deregulierung selektionierter miRNA wurde durch Northern-Blotting und quantitative
Reverse-Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion in etablierten Prostatakrebs-Zelllinien und klinischen Gewebeproben
bestätigt. Weitere Recherchen ergaben, dass miR-143 und miR-145, deren Spiegel in Tumorproben verringert sind, offenbar die Expression
von Myosin-VI-mRNA (MYO6) regulieren und hierüber möglicherweise bei der Entstehung von Prostatakrebs eine Rolle spielen.
Die vermehrte Expression von Myosin VI bei Prostatakrebs war bereits immunhistochemisch nachgewiesen worden und bestätigte sich in
der aktuellen Studie durch erhöhte Spiegel an MYO6-mRNA in den Gewebeproben von primären Prostatakarzinomen [2].
Für die Klinik könnte es sich als bedeutsam erweisen, dass sich miRNA auch im Blut in bemerkenswert stabiler Form finden. In zwei
aktuell publizierten Arbeiten der Universität Bonn und des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg wurde der diagnostische
und prädiktive Wert zirkulierender miRNA bei Prostatakrebs bewertet:
In Prostatakrebsproben waren miR-375 und miR-141 vermehrt exprimiert und ihre Freisetzung ins Blut stieg mit fortgeschrittenem
Krankheitsstadium an [3].
In einer kleinen Fallzahl wurden Korrelationen zwischen miRNA und kliniko-pathologischen Merkmalen bei Prostatakrebs ermittelt: miR-16
und miR-195 wie auch miR-26a waren signifikant mit positiven Schnitträndern assoziiert und miR-195 sowie miR-let7i korrelierten mit dem
Gleason Score [4].
miRNA-Kandidaten für Prostatakrebstherapien
Es gibt Indizien, dass miR-15a und miR-16 im Prostatakrebszellen als Tumorsuppressorgene wirksam sind [5].
Sie supprimieren die die Expression des antiapoptotischen Proteins BCL2, von CCND1 (kodiert für Zyklin D1) und von WNT3A,
die Überleben, Proliferation und Invasion von Prostatakrebs fördern. In den Zellen von fortgeschrittenen Prostatakarzinomen
waren die Spiegel an miR-15a und miR-16 signifikant erniedrigt und die Expression von BCL2, CCND1 und WNT3A deutlich erhöht.
In Xenotransplantaten bei Mäusen wurden nach Rekonstitution der Expression von miR-15a und miR-16 ein Wachstumsstop, Apoptose
und eine deutliche Regression des Tumors beobachtet.
Durch miR-34a werden Prostatakrebs-Stammzellen und die Metastasierung durch direkte Repression von CD44 inhibiert [6].
Das Oberflächen-Adhäsionsmolekül CD44 wird von zahlreichen Krebsstammzellen überexprimiert. Es spielt eine Rolle bei der Förderung
des Tumorwachstums und insbesondere auch bei der Metastasierung. Die Regulierung von Krebsstammzellen – wie auch die von normalen
Stammzellen – erfolgt durch miRNA. Prostatakrebs-Stammzellen mit erhöhter Fähigkeit zur klonalen Expansion, Tumorinitiation und
Metastasierung finden sich vermehrt in der CD44+-Zellpopulation. Aktuell wurde anhand von Expressionsanalysen nachgewiesen, dass
miR-34a in CD44+-Prostatakrebszellen vermindert exprimiert war. Durch erzwungene Expression von miR-34a in CD44+-Prostatakrebszellen
wurden die klonale Expansion, die Tumorregeneration und die Metastasierung unterdrückt.
Als potenzielles Ziel für die Prostatakrebstherapie gilt auch miR-143. Seine Konzentration in Prostatakrebszellen ist umso geringer,
je fortgeschrittener das Krankheitsstadium ist (Abb. 2). Nach Einbringen von miR-143 in Prostatakrebszellen durch Elektroporation in
vivo bei Mäusen kam es zum Stillstand der Zellproliferation und des Tumorwachstums. Mithilfe von Bioinformatics-Analysen wurde ERK5
als ein potenzielles Ziel von miR-143 identifiziert. ERK5 fördert das Zellwachstum und die Zellproliferation als Reaktion auf
Zellwachstumssignale und die Aktivierung von Tyrosinkinase. Es zeigte sich, dass ERK5 in Prostatakrebsgewebe verglichen mit normalem
Prostatagewebe deutlich vermehrt exprimiert wurde (Abb. 3) [7].
Durch miRNA, die über die lange 3‘-untranslatierte Region (3‘UTR) des Androgenrezeptor (AR)-Gens dessen Expression regulieren, lassen
sich unter Umständen therapeutische Strategien entwickeln, die AR-Funktion und damit Androgen-abhängiges Wachstum zu inhibieren. Bei
der Analyse klinischer Prostatakarzinome ergab sich eine negative Korrelation insbesondere zwischen miR-34a wie auch miR-34c und den
AR-Spiegeln [8].
Literatur:
[1] Coppola V, De Maria R, Bonci D, et al. 2010.
MicroRNAs and prostate cancer. Endocrine Related Cancer 17:F1-F17.
[2] Szczyrba J, Löprich E, Jung WS, et al. 2010.
The microRNA profile of prostate carcinoma obtained by deep sequencing. Mol Cancer Res 8:529-538.
[3] Brase JC, Johannes M, Schlomm T, et al. 2011.
Circulationg miRNAs are correlated with tumor progression in prostate cancer. Int J Cancer 128:608-616.
[4] Mahn R, Heukamp LC, Rogenhofer S, et al. 2011.
Circulating microRNAs (miRNAs) in serum of patients with prostate cancer. Urology 77:1265.e9-e16.
[5] Bonci D, Coppola V, Mesumeci M, Addario A, 2008.
The miR-15a–miR-16-1 cluster controlls prostate cancer by targeting multiple oncogenic activities. Nat Med 14:1271-1277.
[6] Liu C, Kelnar K, Liu B, et al. 2011.
The microRNA miR-34a inhibits prostatecancer stem cells and metastasis by directly repressing CD44. Nat Med 17:211-215.
[7] Clapé C, Fritz V, Henriquet C, et al. 2011.
miR-143 interferes with ERK5 signalling, and abrogates prostate cancer progression in mice. PLoS ONE 4:e7542.
[8] Östling P, Leivonen SK, Aakula A , et al. 2011.
Systematic analysis of microRNAs targeting the androgen receptor in prostate cancer cells. Cancer Res 71:1956-1967.