Auch nach dem im Jahr 2000 offiziell verkündeten Abschluss des Human Genome Projekts blieb den Genetikern
noch eine harte Nuss zu knacken. Sie hatten weite Bereiche des Y-Chromosoms zunächst einfach ausgeklammert,
da sie sich mit ihren Routinemethoden an dessen endlos repetitiven Sequenzen die Zähne ausbissen. Zudem vertrat
man vielfach die Meinung, dass sich die Mühe wohl auch nicht lohne. Doch nachdem die Herkulesarbeit getan ist,
erscheint das Y-Chromosom in einem völlig anderen Licht: Die amplifizierten DNA-Abschnitte enthalten die
wesentlichen Gene des Geschlechtschromosoms und sind offenbar der rettende Anker in der Sackgasse der Isolation
auf einem Chromosom, das fast ausschließlich asexuell vom Vater an den Sohn weitergegeben wird [1]
Das Y-Chromosom als Konsequenz des SRY-Gens
Da das SRY-Gen (Sex-deteminierende Region auf dem Y-Chromosom) nur eine von zwei möglichen Optionen zulässt, nämlich männliches Geschlecht, musste es auf dem Partnerchromosom verschwinden, das hierdurch zum X-Chromosom wurde.
Von Natur aus ist der Mensch zunächst als weibliches Wesen angelegt. Erst wenn der Embryo unter den Einfluss
des geschlechtsbestimmenden Gens SRY gerät, wird die Entwicklung in Richtung männlicher Merkmale gelenkt. So
ange das SRY-Gen auf dem Y-Chromosom isoliert ist, wird daher aus einem 46,XX-Genotyp zwangsläufig ein weiblicher
Phänotyp. In seltenen Fällen kommt es indes beim Crossing-Over zu „Unfällen“. Wenn dabei das SRY-Gen vom kurzen
Arm des Y-Chromosoms auf das X-Chromosom übergeht, entwickelt sich aus einem 46,XX-Genotyp ein männlicher Phänotyp.
Auch wenn zweifellos feststeht, dass das Y- aus dem X-Chromosom hervorgegangen ist, sind beide doch schon seit undenklichen Zeiten nicht mehr homolog. Demzufolge kann zwischen ihnen ein Crossing-Over nur noch an zwei kurzen Stücken jeweils an den äußeren Enden des kurzen und langen Arms der Chromosomen stattfinden.
Der Rest des Y-Chromosoms – das sind immerhin 95% seiner gesamten Läge – hat keinen chromosomalen Partner mit dem
er rekombinieren könnte. Das führt zu der paradoxen Situation. dass ausgerechnet ein Geschlechtschromosom fast
vollständig und ausschließlich asexuell vererbt wird. Hingegen kann das X-Chromosom immer dann vom Crossing-
In der Isolation müssen sich auf dem Y-Chromosom zwangsläufig „evolutionäre Dramen“ abgespielt haben. Gene mutierten,
verloren ihre Funktionalität, wurden stillgelegt und verschwanden im Laufe von Jahrmillionen. Nach den Ergebnissen
der Sequenzierung sind auf dem Y-Chromosom heute auch nur noch 78 Gene vorhanden, die zusammen für insgesamt 27
Proteinprodukte kodieren. Gegenüber den ca. 2.000 Genen auf dem X-Chromosom ist das wahrlich nicht viel.
Die gesamte Sequenzierung wurde mit der DNA eines einzigen Mannes vorgenommen. Die Angelegenheit war derart
diffizil, dass auch geringste interindividuelle Unterschiede ausgeschlossen werden mussten.
Die Sequenzierung des Y-Chromosoms war durch die endlosen Wiederholungen ein äußerst mühsames Unterfangen,
das besonders augeklügelter Techniken bedurfte. Kartografierungs- und Sequenzierungsschritte wechselten sich mehrfach ab.
In der MSY-Region gibt es verschiedene Arten von Genen: Zwei X-transponierte Gene sind offenbar erst beim Menschen vor ca. zwei Millionen Jahren vom X- auf das Y-Chromosom übergegangenen. Das lässt sich in etwa datieren, da diese Transponierung bei Schimpansen, die dem Menschen genetisch noch zu 98,5% gleichen, nicht auch auftritt [2].
Eine Gruppe von 16 Y-chromosomalen Genen wird als X-degeneriert bezeichnet. Ihre Funktionen haben sich im Laufe der Zeit auf die Ausprägung männlicher Merkmale spezialisiert.
Die ampliconische (vervielfältigte) DNA der MSY-Region enthält neun aktive Gen-Familien. In den Sequenzen dieser DNA-Abschnitte sind Palindrome identifiziert worden. Diese haben wie ihre sprachlichen Gegenstücke vorwärts und rückwärts die gleiche Buchstabenfolge (z.B. Otto). Solche Palindrome lassen sich auch als Spiegelungen ansehen, die entstehen, wenn zwei Kopien eines DNA-Abschnitts gegenläufig aneinandergefügt werden. Aus dieser Sicht ist die MSY-Region das reinste Spiegelkabinett. Darin liegt offenbar auch der Schlüssel dafür, wie sich Y-chromosomale Gene über evolutionäre Zeiträume hinweg in ihrer Isolation behaupten konnten.
Faltet sich die DNA in einer Weise, die zu einer haarnadelförmigen Biegung in der Mitte eines Palindroms führt, kommen zwei sich entsprechende Gene parallel zu liegen. Das ist praktisch die gleiche Anordnung wie bei der Rekombination zwischen homologen Chromosomen. Daher wird angenommen, dass immer wieder Rekombinationen innerhalb des Y-Chromosoms stattfinden und der Sohn somit doch keine exakt gleiche Kopie des väterlichen Y-Chromosoms erbt. Dafür, dass genau das schon seit undenklichen Zeiten geschieht, sprechen wiederum vergleichende Befunde von Mensch und Schimpanse: Sechs der acht großen Palindrome des Menschen treten auch beim Schimpansen auf [2].
Die Gene in der amplifizierten DNA werden vorwiegend im Hoden exprimiert und stehen auf die eine oder andere Weise
mit der Fertilität des Mannes im Zusammenhang. Bei Männern mit einem Reifungsstillstand der Keimzellentwicklung
oder einer Hypospermatogenese konnte das Genprodukt eines solchen Gens (VCY2) immunhistochemisch in Spermatogonien
nur schwach und in Spermatozyten sowie runden Spermatiden gar nicht nachgewiesen werden [3].
Nicht alle Proteinprodukte der Y-chromosomalen Gene sind direkt oder ausschließlich an der Regulierung der Spermatogenese beteiligt. Einige von ihnen tragen wahrscheinlich auch indirekt zur Erhöhung des reproduktiven Erfolgs bei, indem durch sie Attribute, die im Wettstreit zwischen Männern einen Vorteil verschaffen, besonders ausgeprägt werden. Dies betrifft sowohl äußere Merkmale als auch männliche Verhaltensweisen.
Die Mehrheit der Y-chromosomalen Proteine – insbesondere diejenigen, die direkt bei der Geschlechtsbestimmung und der
Spermiogenese eine Rolle spielen – regulieren die Gen-Expres-sion. Für einen Einfluss auf die Transkription spricht
die Identifizierung verschiedener Proteindomänen, die mit der DNA wechselwirken.
Interessanterweise werden zwei Y-chromosomale Proteine vorwiegend im Gehirn exprimiert. Es handelt sich dabei um
Zelloberflächenproteine, die bei Zell-zu-Zell-Interaktionen eine Rolle spielen. Somit dürfte auch der Sexualdimorphismus
des Gehirns eine genetische Basis haben und nicht nur durch humorale Einflüsse zustande kommen.
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