Nykturie ist definiert als die nächtliche Miktion mit einer Frequenz ≥1 Mal. Die mit Nykturie
assoziierte Lebensqualitätseinschränkung wird von den Betroffenen unterschiedlich empfunden.
Während ein Betroffener bereits bei nur einer einzigen nächtlichen Miktion erheblich leiden
kann, können andere Betroffene auch mit hohen Nykturiefrequenzen keine Probleme haben.
In epidemiologischen Studien traten eine signifikante Lebensqualitätseinschränkung und
ein signifikanter Leidensdruck erst bei einer mittleren Nykturie-Frequenz von ≥2 Mal pro
Nacht auf, weshalb ab dieser Frequenz von einer „klinisch-relevanten Nykturie” gesprochen
wird.
Männer und Frauen sind von einer Nykturie etwa gleich häufig betroffen. Die
Gesamthäufigkeit der Nykturie und die Nykturiefrequenz nehmen bei beiden
Geschlechtern mit steigendem Lebensalter zu. Eine Meta-Analyse aus 43 epidemiologischen
Studien ergab, dass bereits 4,4-18 % der Frauen und 2,0-16,6 % der Männer in einem
Alter zwischen 20 und 40 Jahren eine „klinisch-relevante Nykturie” haben.
Demgegenüber steigt die Frequenz einer „klinisch-relevanten Nykturie” in einem
Lebensalter von >70 Jahren auf 28,3-61,5% bei Frauen und 29,0-59,3% bei Männern an.
Es ist daher davon auszugehen, dass Urologen regelmäßig Kontakt mit Patienten
mit Nykturie haben und dieses Symptom eine Relevanz in jeder Arztpraxis hat.
In der sog. Herner-LUTS Studie bei Männern zwischen 50 und 80 Jahren gaben 43% der
Befragten an, regelmäßig eine „klinisch-relevante Nykturie” zu haben. Die Nykturie
war von allen Symptomen des unteren Harntraktes, den sog. LUTS, nicht nur das
häufigste, sondern auch das lästigste Einzelsymptom. Auf Basis dieser
epidemiologischen Untersuchung wurde errechnet, dass etwa 5,8 Millionen
deutsche Männer eine Miktionsfrequenz ≥2 Mal/Nacht haben. Interessanterweise
war von allen LUTS nur die Nykturie für Arztbesuche innerhalb eines
Nachbeobachtungszeitraumes von zwei Jahren verantwortlich. Für Deutschland
wurde berechnet, dass ca. 1,8 Millionen Männer ihren Arzt nur aufgrund einer
Nykturie aufsuchen. Den meisten Ärzten dürfte jedoch dieser Beweggrund für
den Patientenbesuch unbekannt sein, da die Mehrheit der Männer oder Frauen
auch noch über weitere Blasenspeicher- und Blasenentleerungssymptome berichten,
so dass die Nykturie vom Arzt häufig nicht mehr als Einzelsymptom, sondern als
Komponente eines Symptomkomplexes wahrgenommen und ein solcher behandelt wird
(z.B. Benignes Prostatasyndrom oder überaktive Blase). Es würde sich daher
lohnen, Patienten zukünftig hinsichtlich des spezifischen Einzelsymptoms zu
befragen, welches ihn zum Arzt geführt hat.
Alle im Anschluss aufgelisteten Probleme konnten als direkte oder indirekte
Folge der Nykturie identifiziert werden: Alpträume, Verminderung der kognitiven
Funktion, Depression, vermehrtes Auftreten von Stürzen und Frakturen beim
nächtlichen Toilettengang, erhöhte Wahrscheinlichkeit von Krankenhausbehandlungen
durch Stürze und Frakturen, Erschöpfung am Folgetag, chronische Müdigkeit,
Minderung der Leistungsfähigkeit, Fehlen am Arbeitsplatz, gehäufte Krankmeldungen,
vermehrte Verkehrs- und Arbeitsunfälle, Diabetes mellitus, arterieller Hypertonus,
vermehrte Einweisungen ins Pflegeheim und erhöhtes Mortalitätsrisiko. Auch die
Folgekosten der Nykturie sind für die Betroffenen, das Gesundheitssystem und
die Gesellschaft relevant. Für die „klinisch-relevante Nykturie” wurde für
Deutschland berechnet, dass allein die direkten Kosten etwa 2,32 Milliarden
Euro pro Jahr betragen, was für medizinische Konsultationen, Untersuchungen,
Medikamente oder Behandlungen von Stürzen oder Frakturen aufgewendet werden
muss. Die indirekten Kosten der Nykturie, z.B. durch Verlust der Arbeitskraft
durch verminderte Leistungsfähigkeit oder Fehlen am Arbeitsplatz, betragen
sogar ca. 20,76 Milliarden Euro pro Jahr. Somit handelt es sich bei der
Nykturie nicht nur um ein subjektiv lästiges Symptom, sondern vielmehr
um ein Symptom mit erheblicher klinischer Relevanz infolge der
Lebensqualitätseinschränkung, erhöhten Morbidität und Mortalität
sowie auch ein Symptom mit relevanten Folgekosten für die Gesellschaft,
insbesondere dann, wenn berufstätige Männer oder Frauen betroffen sind.
Ursachen einer Nykturie
Es existieren drei Hauptursachen für die Nykturie, die aufgrund der Pathophysiologie
voneinander abgegrenzt werden können:
Hinter diesen Hauptursachen verbergen sich zahlreiche Krankheiten, die bei
individuellen Patienten einzeln oder auch in Kombinationen vorkommen können.
Somit ist (sind) die genaue Ursache(n) der Nykturie beim individuellen Patienten
nur durch eine systematische Abklärung zu ermitteln und später gezielt zu therapieren.
Die Abklärung und Behandlung von Störungen der reduzierten Blasenkapazität
sind die Domäne der Urologen. Beispiele für die verminderte anatomische Blasenkapazität
sind eine idiopathische oder Medikamenten- oder Strahlentherapie-induzierte
Blasenwandfibrose. Beispiele für die verminderte funktionelle Blasenkapazität
sind die Detrusorüberaktivität bzw. überaktive Blase und Restharn-bildung durch
Blasenauslassobstruktion (BOO) oder Detrusorunteraktivität (Hypokontraktilität).
Es sollte auch immer nach sekundären Ursachen der funktionell verminderten
Blasenkapazität geforscht werden (z.B. bei Harnwegsinfektion, Blasenstein oder
Blasentumor), da die Behandlung der auslösenden Pathologie auch sekundär die
Nykturie reduzieren oder beseitigen kann. Als weitere wichtige Ursache der
Nykturie ist die nächtliche Polyurie zu nennen, bei der es zur vermehrten
Diurese während der Nacht durch Mangel des antidiuretischen Hormons
(Arginin-Vasopressin, AVP) kommt. AVP führt unter physiologischen
Bedingungen zur Rückresorption von filtriertem Urin aus den Sammelrohren
der Niere in die Blutstrombahn. Der Mangel von AVP führt somit zur
verminderten Rückresorption des Primärurins und gesteigerten Diurese.
Bei der Abklärung von nicht selektionierten Männern und Frauen mit
Nykturie hatten 76 % der Patienten in Europa und 88 % der Patienten
in den USA eine solche nächtliche Polyurie als alleinige Ursache oder
als relevanten Co-Faktor. Somit besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit,
dass Patienten in deutschen Arztpraxen auch eine nächtliche Polyurie
alleine oder als relevanten Co-Faktor haben.
Blasentagebuch
Alle Hauptursachen der Nykturie können mit einem Blasentagebuch, welches
über einen Zeitraum von 3 x 24 Stunden geführt wird, abgeklärt werden (Abbildung).
Ein solches Blasentagebuch, in dem zumindest der Zeitpunkt der Miktion, das
Urinvolumen und das Trinkvolumen dokumentiert werden, wird von allen Leitlinien
zur Diagnostik der Nykturie empfohlen. Eine nächtliche Polyurie ist dadurch
charakterisiert, dass das nächtliche Urinvolumen >33% des 24-Stunden Urinvolumens
beträgt. Anamnestisch berichtet der Patient mit nächtlicher Polyurie über
gehäufte nächtliche Miktionen mit großen Miktionsvolumina.
Desmopressin – eine effektive Therapieoption
Desmopressin, seit langer Zeit zur Behandlung des Diabetes insipidus oder
der Enuresis nocturna bekannt, kann auch effektiv eine nächtliche Polyurie
behandeln. Effekte auf das nächtliche Urinvolumen und die Nykturiefrequenz
sind bereits nach wenigen Tagen zu beobachten. Allerdings war Desmopressin
bisher nur bei Patienten mit nächtlicher Polyurie in einem Lebensalter
von <65 Jahre zugelassen und konnte bei älteren Patienten nur Off-Label
verordnet werden, da insbesondere Ältere dazu neigen, eine Hyponatriämie
(Serum-Natriumkonzentration <130mmol/l) zu entwickeln. Eine neue galenische
Zubereitung und geschlechtsspezifische Dosierung (25µg MELT-Tablette für
Frauen und 50µg MELT-Tablette für Männer) zeigte bei erhaltener Effektivität
(signifikante Reduktion der Anzahl der nächtlichen Miktionen, signifikante
Verlängerung der ersten Schlafphase und signifikante Verbesserung der
Lebensqualität) eine deutliche Reduktion der Hyponatriämie-Gefahr.
Somit können mit dem neuen, seit dem Jahr 2017 im Handel befindlichen
Desmopressin in niedriger Dosis auch gefahrlos Patienten mit nächtlicher
Polyurie in einem Alter über 65 Jahre behandelt werden. Obwohl die
Wahrscheinlichkeit für eine Hyponatriämie sehr gering ist (bei
ca. 1,7% der Männer und 2,2% der Frauen) und die allermeisten
Betroffenen auch keine klinischen Symptome entwickeln, sollte bei
Patienten ab dem 65. Lebensjahr sicherheitshalber eine Kontrolle der
Serum-Natriumkonzentration vor, während der ersten Behandlungswoche
und nach einem Monat erfolgen sowie Patienten über die Symptome der
Hyponatriämie aufgeklärt werden. Eine Hyponatriämie äußert sich wie
ein TUR-Syndrom zunächst mit Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen und
Lethargie. Bei weiterer Reduktion der Serum-Natriumkonzentration
tauchen Konfusion, Bewusstseinsstörungen, Muskelschwäche und Krämpfe
auf. Bei ausgeprägter Hyponatriämie können sogar generalisierte
Krampfanfälle oder Koma entstehen. Risikofaktoren für die Hyponatriämie
sind Lebensalter über 65 Jahre, weibliches Geschlecht, niedrige
Serum-Natriumkonzentration vor Therapiebeginn, Nierenfunktionsstörung,
Polypharmazie mit Diuretika und exzessive Flüssigkeitsaufnahme. Die
Gefahr der Hyponatriämie ist besonders im ersten Behandlungsmonat hoch.
Falls eine Hyponatriämie diagnostiziert wurde, auch ohne Symptome,
sollte Desmopressin sofort wieder abgesetzt werden. Nach dem Absetzen
normalisiert sich die Serum-Natriumkonzentration innerhalb einer Woche.
Bei korrekter Indikation stellt Desmopressin daher eine wertvolle
Bereicherung des Behandlungsspektrums bei geringer Nebenwirkungsrate
bei Patienten mit nächtlicher Polyurie dar.
Fazit für die Praxis
Insbesondere Krankheiten mit einer anatomisch oder funktionell reduzierten
Blasenkapazität gehören ins primäre Spektrum der Urologen und sind
zusammen mit Ursachen der gesteigerten nächtlichen Diurese schnell
und einfach zu diagnostizieren. Da die verminderte Blasenkapazität
und nächtliche Polyurie durch AVP-Mangel die häufigsten Ursachen bei
Patienten mit Nykturie sind, sehen Urologen vermutlich auch am häufigsten
Patienten mit Nykturie. Eine zielgerichtete Therapie der zugrundeliegenden
Ursache(n) kann von Urologen problemlos eingeleitet werden. Mit dem neuen
Desmopressin (25 µg MELT-Tablette für Frauen und 50 µg MELT-Tablette für
Männer) steht seit Kurzem auch eine effektive und nebenwirkungsarme
Therapie der nächtlichen Polyurie bei Patienten 65 Jahre zur Verfügung.
Verfasser: Prof. Dr. med. Dr. phil. Matthias Oelke, Klinik für Urologie,
Kinderurologie und Urologische Onkologie, St. Antonius Hospital,
Möllenweg 22, 48599 Gronau
Literatur beim Verfasser.
„Klinisch-relevante Nykturie”
1. Eine reduzierte (anatomische oder funktionelle) Blasenkapazität,
2. Erhöhte Flüssigkeitsaufnahme
3. Vermehrte Diurese.
Die nach dem Blasentagebuch durchzuführende Zusatzdiagnostik sollte anschließend die
auslösende Ursache(n) der Nykturie beim individuellen Patienten klären,
so dass eine pathophysiologisch korrekte Therapie eingeleitet werden kann.
So werden bei der Abklärung von urologischen Erkrankungen mit reduzierter
anatomischer oder funktioneller Blasenkapazität u.a. eingesetzt: Urin-Stix,
Urin-Kultur, Uroflowmetrie und Restharnmessung, Sonographie der Harnblase
und Prostata und ggf. eine Computer-urodynamische Untersuchung und
Urethro-Zystoskopie. Bei nächtlicher Polyurie ist aufgrund der
Wasserdiurese das spezifische Uringewicht am Morgen gering.
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