Das sekundäre Geschlechterverhältnis, d.h. der Anteil neugeborener Knaben sinkt, wenn die Mutter
übermäßigen Belastungen aus der Umwelt ausgesetzt ist. Hierbei kann es sich um Natur- oder menschengemachte
Katastrophen, um ökonomische oder politische Zerrüttung und um Terrorangriffe
(Catalano R, et al.2005) handeln. In Fachkreisen
werden zwei Theorien kontrovers diskutiert, die jeweils erklären sollen, wie es infolge äußerer
Ereignisse zu den Einbrüchen bei männlichen Neugeborenen kommt. Zwischen diesen Theorien sollte
anhand von Daten aus schwedischen Registern der Jahre 1751 bis 1912 unterschieden werden
(Catalano R, Bruckner T. 2006):
Theorie 1: Reproduktiver Eigennutz der Mutter führt zum Abtöten schwacher Embryonen/Föten
Durch natürliche Selektion hat sich eine Strategie herausgebildet, bei der Schwangere ihren Fortpflanzungserfolg
bereits für die übernächste Generation sichern wollen. Ihre Chance auf Enkelkinder ist bei Töchtern größer als bei
schwächlichen Söhnen, so daß bei ungewöhnlicher Belastung vermehrt schwache männliche Embryonen/Föten abgetötet
werden. Letzteres eröffnet die Aussicht auf eine schnellere erneute Schwangerschaft, die eventuell zu weiblichen
Nachkommen führt. Diese aus archaischen Epochen stammende Prägung soll bis in die heutige Zeit konserviert worden
sein. Die Theorie besagt, daß Schwangere alle Embryonen/Föten spontan abortieren, die ein hypothetisches Kriterium
für "Überlebenswertigkeit" verfehlen. Diese Meßlatte wird durch äußere Belastung angehoben. Dem fallen vermehrt die
ohnehin durchschnittlich schwächeren männlichen Embryonen/Föten zum Opfer.
Theorie 2: Außergewöhnliche Belastungen der Mutter schädigen Embryonen/Föten in utero
Die Belastung der Mutter wirkt sich in utero auf alle Embryonen/Föten negativ aus, so daß deren Überlebensfähigkeit
sinkt, ohne daß die Mutter verstärkt dazu neigt, die schwächeren zu abortieren. Auch bei dieser Theorie trifft es in
erster Linie vermehrt schwächere männliche Embryonen/Föten.
Wie läßt sich zwischen beiden Theorien unterscheiden?
Nach beiden Theorien kommt es infolge von exzessivem Streß zu einer verminderten Geburtenrate, die insbesondere
Knaben betrifft, d.h. das sekundäre Geschlechterverhältnis sinkt. Allerdings bleibt nach Theorie 1, bei der
die "Überlebenswertigkeit" entscheidend ist, unter
den geborenen Knaben eine gestärkte Population übrig, denen als Kohorte eine längere Lebenserwartung beschieden
sein sollte als wenn – wie in weniger turbulenten Zeiten – auch die schwächeren geboren
worden wären.
Im Unterschied dazu werden nach Theorie 2 solche schwachen Knaben ebenfalls geboren. Denn es wird nicht das
Kriterium für "Überlebenswertigkeit" angehoben, sondern die Konstitution und damit die Überlebensfähigkeit
aller sinkt, so daß zwar auch vermehrt Aborte insbesondere männlicher Embryonen/Föten zu verzeichnen sind, aber
es werden weiterhin schwache Individuen ausgetragen, die nach Theorie 1 eliminiert würden. Die Lebenserwartung solcher
Geburtsjahrgänge sollte geringer sein als in Jahrgängen mit einem höheren sekundären Geschlechterverhältnis.
Schwedische Bevölkerungsstatistiken stehen im Einklang mit Theorie 1
Aus dem sekundären Geschlechterverhältnis der in Schweden zwischen den Jahren 1751 und 1912 geborenen Jungen
und Mädchen und der Lebensspanne der jeweiligen männlichen Geburtskohorte läßt sich auf eine negative Korrelation schließen.
Das steht im Einklang damit, daß Schwangere bei sehr starker umweltbedingter Belastung von sich aus vermehrt
schwache Embryonen/Föten abortieren.
Offenbar veranlaßt der evolutionäre Zwang zur Arterhaltung Schwangere dazu, bei außergewöhnlicher äußerer Belastung,
vermehrt schwächere männliche Embryonen/Föten abzutöten.
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Auch wenn die Befunde dieser Studie in erster Linie Demographen und Evolutionsbiologen interessieren dürften,
könnten sie doch auch dazu beitragen, Risikofaktoren für streßbedingte psychiatrische und somatische Krankheiten
zu erkennen.
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