In Deutschland leben etwa 80.000 Jungen und Männer, deren Chromosomensatz ein oder mehrere überzählige X-Chromosomen
enthält. Das daraus im Erwachsenenalter resultierende Krankheitsbild wurde 1942 erstmals von Harry F. K. Klinefelter
(Baltimore) beschrieben. Verglichen mit dem erheblichen Krankheitswert anderer Chromosomenverteilungsstörungen sind
die Auswirkungen eines Klinefelter-Syndroms weitaus weniger auffällig. Dies erklärt wohl auch, warum neuesten
Untersuchungen zufolge bis zu drei Viertel der Betroffenen – trotz nicht unerheblicher gesundheitlicher
Beeinträchtigungen – unerkannt und somit unbehandelt bleibt.
Aufgrund testikulärer Degenereation sind Männer mit Klinefelter-Syndrom in aller Regel infertil. Bei erfolgreicher
testikulärer Spermienextraktion sind Vaterschaften mittels assistierter Reproduktionstechnik aber vielfach möglich.
Das Klinefelter-Syndrom ist die häufigste Ursache von hypogonadotropem Hypogonadismus bei jungen Männern. Der Testosteronausgleich
ist daher die wichtigste Therapiemaßnahme, um die Langzeitfolgen eines Androgenmangels zu verhindern [1].
Karyotyp, Phänotyp, Epidemiologie und Diagnose
Der Chromosomensatz eines Mannes besteht normalerweise aus 23 Chromosomenpaaren und jeweils einem X- und
einem Y-Chromosom. Beim Klinefelter-Syndrom sind neben den beiden Geschlechtschromosomen in allen oder einer größeren Zahl der Körperzellen
ein oder mehrere überzählige X-Chromosomen vorhanden. Hierbei tritt der Karyotyp XXY mit etwa 80% weitaus am häufigsten auf (Abb. 1).
Das überschüssige X-Chromosom stammt aus einer Fehlverteilung der Geschlechtschromosomen während der ersten oder
zweiten meiotischen Teilung. Aber auch noch während mitotischer Teilungen in der frühen Zygote kann es zu einer
solchen Fehlverteilung kommen. In dem Fall entwickeln sich so genannte Mosaike.
Kleine, feste Hoden, hypergonadotroper Hypogonadismus, Oligozoospermie bzw. Azoospermie sind wesentliche Charakteristika
von Männern mit Klinefelter-Syndrom. Die Schambehaarung ist bei Männern mit Klinefelter-Syndrom meist nur spärlich
ausgebildet. Wie bei Frauen findet man eine horizontale Schamhaargrenze. Männer mit Klinefelter-Syndrom haben zudem
einen nur sehr spärlichen Bartwuchs.
Männer mit Klinefelter-Syndrom entwickeln einen weiblichen Fettverteilungstyp mit betonter Hüftpartie. Hinzu kommt
eine vermehrte Bildung von Brustdrüsengewebe, so dass Klinefelter-Patienten unter Umständen durch eine Gynäkomastie
auffallen. Ein bis drei Prozent aller Klinefelter-Patienten entwickeln einen Brustkrebs.
Als weiteres äußeres Merkmal von Klinefelter-Patienten gelten die oft überproportional langen Beine. Im Unterschied
zu Eunuchen ist die Armspannweite jedoch meist noch im normalen Bereich.
Bei pränatalem Screening und Blutuntersuchungen von Neugeborenen wurde die Prävalenz des Klinefelter-Syndoms
in Dänemark bzw. den USA auf ca. 150 bis 160 pro 100.000 Geburten von Jungen ermittelt. Neuere Befunde aus Australien
(223/100.000) legen allerdings populationsbedingte Unterschiede nahe [2].
Das klinische Erscheinungsbild des Klinefelter-Syndroms ist vielfach dem bei Männern mit chromosomaler Euploidie
ähnlich, so dass die Diagnose Klinefelter-Syndrom ohne Karyotypisierung nur schwer zu stellen ist. Das
spiegelt sich in Diagnoseraten wider, die mit 25% (Dänemark) bis ca. 50% (Australien) ermittelt wurden.
Im Rahmen der vorgeburtlichen Diagnostik – wie sie insbesondere bei älteren Schwangeren durchgeführt wird,
kann ein Klinefelter-Syndrom als Zufallsbefund aufgedeckt werden. Eine gezielte Suche nach der chromosomalen
Aberation wird indes nicht empfohlen.
Frühzeitige testikuläre Degeneration
Die Degeneration der Tubuli seminiferi bei einem 47,XXY-Chromosomensatz beginnt bereits während der Fetalphase, setzt sich im Kindesalter
fort und beschleunigt sich während der Pubertät dramatisch [3].
Bei Untersuchungen von Hodenbiopsien in einer Studie mit 47,XXY-Jungen (n = 14) wurden in keinem
Fall meiotische Keimzellen gefunden [4].
Bei Männern mit Klinefelter-Syndrom werden Keimzellen entweder noch vor Einsetzen der Meiose als Spermatogonien B oder
unmittelbar zu Beginn der Meiose noch vor Erreichen des Leptotän-Stadiums eliminiert [5].
Können Männer mit Klinefelter-Syndrom Kinder zeugen?
Die reproduktive Funktion der Männer mit Klinefelter-Syndrom ist äußerst stark beeinträchtigt. Erst seit der Entwicklung
effektiver Methoden der assistierten Reproduktion (ART) besteht für zahlreiche betroffene Männer die
realistische Chance auf eine Vaterschaft. Um diese Chance zu erhöhen,
wird zunehmend erwogen, Hodengewebe möglichst frühzeitig – vor einer Substitution mit Testosteron – durch
Kryopreservation zu sichern. Eine solche Maßnahme erreichte in jedem Fall nur jene Minderheit, bei der das
Klinefelter-Syndrom bereits vor der Pubertät diagnostiziert wird.
Bislang gibt es keine randomisierte, kontrollierte Studie, in der der Einfluss einer Hormonsubstitution bei Klinefelter-Patienten
auf die Gewinnung von Spermien untersucht worden ist [6]. Es wurde allerdings die Möglichkeit diskutiert, dass durch exogenes
Testosteron, die Produktion von Spermien supprimieren sein könnte [7].
Testosteronsubstitution sollte bei Klinefelter-Patienten mit der Pubertät beginnen
Zu Beginn der Pubertät wurden normale Spiegel an FSH, LH und Testosteron registriert. Mit Voranschreiten der
Pubertät kommt es dann zum Ansteigen der FSH- und LH-Spiegel und der Testosteronspiegel verbleibt im Vergleich
zu normalen Jungen auf einem niedrigen Niveau, das sich allerdings vielfach noch im unteren Normbereich
bewegt (Abb. 2).
Bei Männern mit Klinefelter-Syndrom besteht eine eindeutige Indikation zur Testosteronsubstitution. Vielfach wird ein
Beginn der Therapie mit dem Eintreten der Pubertät d. h. dem Ansteigen von FSH und LH als sinnvoll erachtet [1]. Damit wird
beabsichtigt, die maskuline Entwicklung der Sexualmerkmale sowie die hinreichende Ausbildung von Muskelmasse und
Knochenmineraldichte sicherzustellen. Davon profitiert allerdings nur eine Minderheit von Adoleszenten, bei denen
die chromosomale Aneuploidie frühzeitig diagnostiziert werden konnte.
Zur Vorbeugung von Osteoporose, Adipositas, metabolischem Syndrom und Diabetes mellitus wird empfohlen, die
Testosteronsubstitution lebenslang durchzuführen. Insbesondere bei jüngeren hypogonadalen Männern wirkt sich
der Testosteronausgleich positiv auf die Körperzusammensetzung, die Muskelkraft und die sexuelle Aktivität aus.
Literatur:
[1] Groth KA, Skakkebæk A, Høst , et al. 2013 Klinefelter syndrome – a clinical update.
J Clin Endocrinol Metab 98:20-30.
[2] Herlihy AS, Halliday JL, Cock ML, McLachlan RI, 2011.
The prevalence and diagnosis rates of Klinefelter syndrome: an Australian cpmparison. Med J Aust 194:24-28.
[3] Aksglaede L, Wikström AM, Raipert-De Meyts E, et al. 2006.
Natural history of seminiferous tubule degeneration in Klinefelter syndrome. Hum Reprod Update 12:39-48.
[4] Wikström AM, Raivio T, Hadziselimovic F, et al. 2004.
Klinefelter syndrome in adolescence: onset of puberty is associated with accelerated germ cell depletion.
J Clin Endo-crinol Metab 89:2263-2270.
[5] Wikström AM, Hoei-Hansen CE, Dunkel L, Raipert-De Meyts E. 2006.
Immunoexpression of androgen receptor and nine markers of maturation in the testes of adolescent boys with Klinefelter syndrome:
evidence for degeneration of germ cells at the onset of meiosis. J Clin Endocrinol Metab 92:714-719.
[6] Mehta A, Paduch DA, 2012. Klinefelter syndrome: an argument for early aggressive hormonal and fertility management.
Fertil Steril 98:274-283.
[7] Ramasamy R, Ricci JA, Palermo GD, et al. 2009. Successful fertility treatment for Klinefelter´s syndrome.
J Urol 182:1108-1113.